Brief 97 veröffentlicht am 23 Dezember 2022

“Traditionis Custodes ist ein Attentat auf die Diözesanpriester“

Paix Liturgique: Können Sie uns mehr als anderthalb Jahre nach der Veröffentlichung des Motu Proprio Traditionis custodes sagen, wie sehr die traditionellen Katholiken Opfer dieser ungerechten Entscheidung geworden sind?

Louis Renaudin: Verzeihen Sie, wenn ich gängigen Vorstellungen widerspreche, aber ich glaube nicht, daß die traditionellen Katholiken die eigentlichen Opfer dieser ungerechten Entscheidung waren. Ich würde sogar behaupten, daß die "hartnäckigsten" unter ihnen überhaupt nicht betroffen waren.


PL: Erklären Sie das bitte …

LR: Die Welt der traditionellen Katholiken setzt sich aus mindestens zwei großen Familien zusammen: der nebulösen Piusbruderschaft und jenen, die man der Bequemlichkeit halber weiterhin "Ecclesia dei" nennt. Es ist offensichtlich, daß der Pius-Nebel in keiner Weise vom Motu Proprio Traditiones Custodes betroffen ist. Abgesehen davon hat die FSSPX meiner Meinung nach die Gelegenheit verpaßt, ihre "heilige Einheit" zu demonstrieren, indem sie den Ecclesia Dei-Organisationen und den Diözesanpriestern großzügig zu Hilfe kam und insbesondere ihre Dienste für bedingungslose Firmungen anbot. Ich stelle fest, daß TC in keiner Weise die Großzügigkeit in Frage stellte, die Papst Benedikt und Papst Franziskus der FSSPX ohne Gegenleistung gewährt hatten.


PL: Welche wären das?

LR: Erstens die Aufhebung der Exkommunikationen und darüber hinaus, daß sie ihnen die Befugnis erteilt haben, legal Beichte zu hören und Ehen zu schließen, was nicht wenig ist zu einem Zeitpunkt, an dem unsere Bischöfe diese Punkte für die Gemeinden, die ihrer Autorität unterstehen, wieder aufgreifen.


PL: Es waren also die Priester der ehemaligen "Ecclesia Dei"-Gemeinschaften, die ins Visier genommen wurden?

LR: Das glaube ich eigentlich nicht, auch wenn es eine Nebenabsicht der Unruhestifter von St. Anselm und der Gruppe der Freunde von Kardinal Roche, dem Präfekten des Dikasteriums für den Gottesdienst, gewesen sein könnte, die, wie wir heute wissen, hinter Traditionis custodes stehen.


PL: Aber sie waren doch wirklich bedroht?

LR: Das schon, aber letztlich und zumindest bis heute nicht auf dramatische Weise.


PL: Wie können Sie das behaupten?

LR: Indem ich die Tatsachen feststelle. Es stimmt, daß eine Reihe von Bischöfen, vor allem in Frankreich, die Gelegenheit genutzt haben, die FSSP an mehreren Orten zu verfolgen, Messen – etwa in Paris – zu streichen und an verschiedenen Orten Einschränkungen vorzunehmen. Aber an vielen Orten und in vielen Ländern (vor allem in Italien) hat sich nichts geändert. Trotz polternder Ankündigungen, daß die Entscheidungen des Motu Proprio wahrscheinlich streng umgesetzt werden, und trotz berechtigter Angst um die traditionellen Seminare durch die Zunahme kanonischer Visitationen, ist bis heute nichts passiert. Dann, weniger als ein Jahr nach der Veröffentlichung, erläßt der Papst ein Dekret, das weit hinter den vorherigen Text zurückfällt.


PL: Aber dieses Dekret betrifft nur die Priesterbruderschaft St. Petrus...

LR: Und nur den Gottesdienst, der in den eigenen Häusern gefeiert wird... Seien wir mal ehrlich. In Rom wird dieses Dekret, zusammen mit verschiedenen anderen übereinstimmenden Zeichen, als eine "Freistellung" sämtlicher Ecclesia-Dei-Gemeinschaften verstanden.


PL: Können Sie das beweisen?

LR: In der Tat wurden bisher keine Maßnahmen gegen die Ecclesia-Dei-Institute als solche ergriffen, obwohl das ICK in Chicago "ausgesperrt", die FSSP in Grenoble entlassen wurde, usw.


PL: Also richtete sich die Aktion nur gegen die Laien?

LR: Das glaube ich nicht... denn Sie wissen, daß Laien tun können, was sie wollen. Wenn ihnen die Messe "verboten" wird, können sie sie woanders besuchen: bei der Piusbruderschaft, in den Kapellen des Widerstands und sogar anderswo, wenn es nötig ist.


PL: Aber gegen wen wurde das Motu Proprio dann überhaupt erlassen?

LR: Es gibt mehrere Punkte, die zu berücksichtigen sind; der letzte ist der wichtigste:


1.) Die Art und Weise, wie die Kirche regiert wird, ist relativ chaotisch, aber es ist ein gewolltes Chaos, das Methode hat. Eine Entscheidung wird in die eine Richtung getroffen, dann wird ihr halbwegs widersprochen und so weiter. Ich kann Ihnen sagen, daß die französischen Bischöfe, von denen einige TC mit unverhohlener Freude begrüßt haben, heute verunsichert sind, wenn sie eine Botschaft von Kardinalstaatssekretär Parolin erhalten, "nicht zu viel Gas zu geben".

2.) Außerdem, wie ich bereits sagte, glaubten die sturen Kleingeister von St. Anselm und dem Dikasterium für den Gottesdienst, ihre Stunde sei gekommen, und sie haben ihren Sieg ein wenig zu überschwenglich gefeiert, was Papst Franziskus sehr mißfällt, der seine besten Unterstützer gerne aus dem Konzept bringt, um deutlich zu machen, daß er und nur er regiert. Nicht umsonst hat er die Botschaft verbreitet, daß man versucht habe, sie zu manipulieren. Aber Vorsicht: Auch wir sollten uns nicht zu sehr auf den Sieg freuen, denn wir könnten eine Enttäuschung erleben.

3.) Aber grundsätzlich waren es natürlich Mitglieder des Diözesanklerus: konservative Bischöfe (besonders die in den USA), Diözesanpriester und Ordensleute, die Gefallen an der traditionellen Liturgie gefunden hatten, und die immer zahlreicher wurden. Der Papst interessiert sich nicht wirklich für die Liturgie, aber es war nicht schwer, ihn davon zu überzeugen, daß der Geist des Konzils in den Priesterhäusern gefährdet war.


PL: Aber das ist doch Unsinn. Die Zahl der Diözesanen, die mit der traditionellen Liturgie zu tun haben, ist nicht sehr groß.

LR: Das wäre eine grobe Fehleinschätzung, denn während es vor Summorum Pontificum nur wenige "Diözesane und Ordensleute" gab, die die traditionelle Liturgie feierten, hat die Promulgation von SP gewissermaßen die Dämme brechen lassen. Vergessen Sie nicht, daß sich innerhalb von zehn Jahren (2007/2017) die Zahl der traditionellen Sonntagsmessen weltweit verdoppelt hat, was zu einem großen Teil Diözesanpriestern zu verdanken ist: Bei den Umfragen zur Situation der traditionellen Liturgie in der Welt, die PL 2017/2018 und 2019 veröffentlichte, wurde sehr deutlich, daß die größte Zahl der Priester, die die traditionelle Liturgie zelebrierten, Diözesanpriester waren, und das war erst der Anfang.


PL: Der Anfang wovon?

LR: Von einer "furchtbaren" liturgischen Ansteckung. Ich bin davon überzeugt, daß der Diözesanklerus bei dem Tempo, in dem sich die Dinge seit 2007 entwickelt haben, und trotz des hartnäckigen Widerstands der Bischöfe unwiderruflich und in sehr großer Zahl zur traditionellen Liturgie und zum traditionellen Katechismus übergehen würde. Das war das Risiko, dem sich die Feinde des Friedens und des Glaubens ausgesetzt sahen.


PL: Glauben Sie, daß das Motu Proprio Traditionis custodes gegen diese Ansteckungsgefahr veröffentlicht wurde?

LR: Ich sage Ihnen noch einmal, daß die Dinge komplex sind: Wenn man sagt, daß man den Diözesanpriestern die traditionelle Messe verbieten will, impliziert dies, daß man sie auf die Ghettos außerhalb der Diözesen, auf die Ränder beschränken will. Nur daß die Ghettos jetzt eben wachsen und schöner werden, da die traditionellen Seminare seit TC alle ein deutliches Wachstum verzeichnen, während die diözesanen Seminare immer weiter abstürzen. Ja, ich behaupte, daß die Diözesanprie-ster ihrerseits seit eineinhalb Jahren die wahren Opfer dieser ungerechten Entscheidung sind. Das muß gesagt werden, und wir dürfen sie auf keinen Fall im Stich lassen: Wir müssen ihnen mit all unseren Kräften helfen!


PL: Können Sie mir ein Beispiel nennen?

LR: Man muß nur noch einmal TC lesen, wo es klar heißt, daß Diözesanpriester, die nach dem Usus antiquior zelebrieren möchten, ihre Bischöfe um Erlaubnis bitten müssen, die ihrerseits die Zustimmung Roms einholen müssen. Alle Anfragen - und ich meine wirklich alle -, die nach diesem Verfahren gestellt wurden, wurden negativ beschieden, und zwar auf Anweisung von oben.

Das bestärkt mich in der Annahme, daß das Motu Proprio Traditionis custodes in erster Linie darauf abzielte, den traditionellen Tsunami zu bremsen, der den katholischen Klerus inmitten der Glaubenskrise unwiderruflich umkrempeln würde. Daß es ursprünglich auch das Ziel hatte, die traditionelle Welt möglichst zu sterilisieren, ist nicht zu bezweifeln. Die Widerstandsfähigkeit dieser Welt wurde jedoch deutlich unterschätzt. Seit einem halben Jahrhundert ist sie durch nichts zu brechen oder aufzuhalten.


PL: Wie lautet Ihr Fazit?

LR: Die Diözesanpriester anzugreifen ist ein Versuch, der notwendigen Wiederbelebung der katholischen Kirche einen tödlichen Schlag zu versetzen.

Denn sehen Sie, es werden die Diözesanpriester sein, die durch ihr Wirken für den Katechismus und die Liturgie auf einer allgemeinen Ebene für diese Wiederherstellung arbeiten können. Die anderen sind nur momentan unentbehrliche, aber temporäre Stacheln.

Wir müssen also dafür beten, daß der Himmel all unseren befreundeten Priestern beisteht, die in den Diözesen morgen und in Zukunft die Fermente der Erneuerung der Kirche sein werden.


Übersetzung:

Pro Missa Tridentina


Quelle:

http://www.paixliturgique.com/aff_lettre.asp?LET_N_ID=3645

Übersetzung ins Englische bei Rorate-Caeli:

https://rorate-caeli.blogspot.com/2022/12/it-is-traditional-diocesan-priests-that.html#more